Dem Schock die Stirn


Hilde Kentane geht bei Daeppen über Goya hinaus


Verletzt und gebunden, deformiert und fragmentiert - in Hilde Kentanes Zeichnungen und Skulpturen sind Menschen und Tiere ihrer Selbstbestimmung gewaltsam entraubt.


"Macht und Unterdrückung" bezeichnet die 1960 geborene, weit gereiste Belgierin als Leitthema ihrer Arbeiten, und das Erstaunen darüber, "was Menschen einander antun". Die Drastik der Darstellung führt dabei teilweise an die Grenze des Erträglichen. Dieser Effekt ist zunächst der virtuosen Auschöpfung eines technischen Repertoires geschuldet, das sich an der akademischen Tradition orientiert und die Bewunderung alter Meister verrät. Dann ist das Vermögen zu schockieren dem Medium Zeichnung aber selbst inhärent.


In Kentanes kleinen Formaten entfaltet jene von Goya eröffnete Funktion der Zeichnung, das Schreckliche sichtbar zu machen, ihre volle Intensität. Gerade in der heutigen Zeit, in der wir für die permanente Konfrontation mit Gewalt- darstellungen längt Ausweichstrategien entwickelt haben, kann die Zeichnung der Abstumpfung dem Unrecht gegenüber entgegentreten.


Tagebuch. Der zeichnerische Gestus unterstreicht die sehr persönliche Note dieser Werke, deren Tagebuchcharakter vielleicht mit dafür verantwortlich ist, dass sie bis zur aktuellen Ausstellung bei Guillaume Daeppen noch nirgends gezeigt worden sind. Kentane verarbeitet Erlebnisse und Beobachtungen, die sie in einem kleinen Skizzenheft festhält. Oft erschienen die Dinge auf den ersten Blick banal und würden erst später, beim Zeichnen, ihre tiefere Bedeutung freigeben, erklärt die Künstlerin. So empfindet sie den Akt des Zeichnens geradezu als Ueberlebenstaktik.


Dass in den Motiven oft auch Sexuelles mitschwingt, ohne sich in den Vordergrund zu drängen, wird in den Skulpturen besonders deutlich. Es sind seltsam gekrümmte Phalli, aus Baumwollstoff zusammengenäht und ausgestopft. Ihr fleckiges, fast schmutziges Inkarnat aus Pigmenten und Kaffee lehnt sich an die Grundierung und Kolorierung der Zeichnungen an. Kentane versteht sie als räumliche Fortsetzung der Zeichnung.


In der Nähe des auf Beine und die getrocknete Blüte der Anthurie reduzierten "Adam" hängen einige Blätter, die angebundene oder eingesperrte Tiere zeigen. Dann sieht man sich mit einer Schlachthausszene konfrontiert - und ist entsetzt: An den Fleischerhaken baumeln Menschen, die Extremitäten abgehackt, die Bäuche aufgeschlitzt. "Mit meiner Kunst formuliere ich nur die Fragen", sagt die Künstlerin, "und enthalte mich des Urteils." So bleibt es an uns zu reflektieren, aufgrund welcher Normen der Schockeffekt hier wohl schwächer ausfiele, wenn es sich um Kälber handeln würde.


Adrian Aebi


in Basler Zeitung vom 2. Juni 2005