METEORITEN UND ANDERE IRDISCHE KÖRPER


Man kann sich manchmal fragen, ob Künstler verstehen, was sie tun. Jean-Xavier Renaud hat mich oft mit der Diskrepanz zwischen seinem ruhigen, schüchternen Wesen und seinen Zeichnungen überrascht. Als ich sie das erste Mal sah, es ist vielleicht fünf Jahre her, hatten sie mich verwirrt. Mit dem Kugelschreiber gemachte kleine Skizzen - bissig und rachsüchtig. Sie sahen wie Skizzen eines Bengels aus - im Fernsehen, auf der Strasse, im Supermarkt des Viertels gehörte und gesehene Dinge oder Witze, die man sich selbst immer wiederholt, allerdings vor Publikum schwer erzählen könnte. Mit einer ziemlich variierenden Ausdrucksform, die von der schnell gekritzelten Skizze und ohne künstlerisches Ziel geht, bis hin zu der sehr gepflegten Zeichnung, beinahe hyperrealistisch. Diese Unterschiede in der Machart scheinen den Variationen seiner Gedanken zu folgen. Sie existieren ohne jegliche Hierarchie zwischen den Szenen, als würden sie in einer riesigen Blase zusammenleben, deren gewissenhafter Kolumnist er wäre. Man könnte an eine Zeitung bestehend aus Bildern denken, eine Sammlung von Notizen und Meditationen, eine Art Scrapbook, gemacht aus dem, was ihm gerade mehr oder weniger durch den Kopf geht und das wir in verschiedenen Formaten und mit unterschiedlichen Techniken wiederfinden (Kugelschreiber-, Aquarelle-, Oelkreideskizzen oder Leinwandgemälde).


Die freudige Lebendigkeit seiner Zeichnungen verzichtet auch nicht auf ein wenig Düsterkeit. Alle beziehen sich auf eine Vision der menschlichen Verhältnisse, in denen das Grobe die Höflichkeit, und die Gewalt die Gleichgültigkeit mit einer fröhlichen Wildheit ersetzt, bar jeglicher Sentimentalität und sehr belebend. Geben seine Zeichnungen und Gemälde nicht das wieder, was wir gerne leben würden (sie sind eine getreue Beschreibung der Hölle), so besitzen sie wiederum eine Freiheit und eine Art Unbeschwertheit, die ich nirgendwo anders gesehen habe. Wir sind hier weit von einer steifen Kunst entfernt, sehr weit dem politisch Korrekten, und dennoch dem Leben sehr nah: Im Leben eines Videospieles, in dem man sehr leicht das machen kann, was im realen Leben sehr unangenehm wäre, wie zum Beispiel töten oder sterben, schwierig umsetzbare und mit Schmerz verbundene Dinge, die das Spiel aber endlos - nicht nur mühelos sondern auch mit wahrer Freude - ermöglicht.


Der Stil oder genauer gesagt die Vielfalt der Stile erlaubt nicht nur, sich in die Ideen, die man hat, zu infiltrieren sondern auch in diejenigen, die man sich verbietet. Jeder wird in diesem Theater des Absurden die Art und Weise, wie sich Ideen verknüpfen, sobald sie nicht mehr in einer Aktion sind, erkennen. Hier ist das Individuum nicht der Künstler sondern der Zuschauer. Durch einen seltsamen Prozess des "sich selbst verschwinden lassen", scheint er den Platz seinen Objekten zu überlassen, die in seine Zeichnungen gekommen sind, ohne dass man das Wie noch das Warum wirklich verstünde, höchstens durch die Tatsache dieser stilistischen Freiheit. Es sind Bilder, vollgestopft mit Bezügen auf Werbung und Fernsehen, die der Künstler mit der gleichgültigen Verfressenheit eines Staubsaugers unter einem etwas vernachlässigten Sofa zu sammeln scheint. Die Blase ist keine schöne Blase, sondern ein praller Sack, gleichgültig und grausam.


Es entsteht daraus eine Art Müllsystem, das sich ausserhalb der kommerziellen Bildwirtschaft befindet, als gehörte das Thema dieser Werke der unsichtbaren Welt der Zurückweisung. Sie faszinieren uns und wir lieben sie, weil sie uns von dem erlösen, was wir jeden Tag aufsaugen: Schönheit als Kriterium, Höflichkeit, Schamgefühl, Respekt als Eigenschaft, Stille und, etwas genereller betrachtet, Erstickung. Ein Kaninchen, eingesperrt im Maschendrahtzaun, dessen Pfosten Möhren sind, ist - ich weiss wirklich nicht wieso - ein getreues und starkes Bild des Lebens, das wir führen. Ein Porträt, dessen Mandelaugen von gemalten Mandeln ersetzt werden, besagt viel über die Einkapselung, in der Bilder und Metaphern uns festhalten.


Es ist nicht so sehr der kaustische Humor, der erstaunt (Sandra Cattini vergleicht ihm mit Wilhelm, dem genialen Zeichner von Liberation), als vielmehr seine Art zu zeichnen, als sei sie der einzige Weg, das Wuchern des Realen zu umfassen. Jean-Xavier Renaud filtert wenig. Er gibt Satzbrocken, so wie sie Ihnen auf der Strasse begegnen ohne Unterscheidung wieder, Teile von Körpern und Gesichter, wie die Werbung sie Ihnen verkauft. Das Ganze mit einer kalten, technischen Zeichnung verknüpft, mal angeblich naiv, mal gewissenhaft. So viel Freiheit und so viel Aufmerksamkeit unterscheiden sich von den meisten Werken, die oft in einer gewissen Spezialisierung, einer mehr oder weniger scharfen, wenig aktuellen und ein wenig langweiligen Problematik eingebettet sind, und die letztendlich das Leben wie eine verpasste Gelegenheit erscheinen lassen, die sowohl fürchterlich als auch gigantisch ist. Hier haben wir nicht zu viel Zeit, um zu verstehen. Jede Zeichnung scheint von weit her gekommen zu sein, um sehr weit zu gehen, selbst wenn wir anerkennen müssen, dass uns im Detail nichts fremd ist.


Man lässt sich also von dieser endlosen Reise tragen, dieser Geschichte ohne Moral, wo sich alles vermischt. Das Private, das Oeffentlich, das Alte und das Veraltete, aber immer in Verbindung mit der unmittelbaren Welt. Eine Welt ohne andere Kultur als die des frenetischen Konsums und ein Ueberlebensprinzip, bei dem der Mann (oder die Frau) und der Pilz sich näher stehen als man glaubt, sehr wohl in der Lage, sich untereinander zu fressen und von dem, was vorbeikommen könnte, gefressen zu werden ohne es zu vermuten. Es ist jedenfalls das, was in seinen Zeichnungen auftaucht. Diese sind wie allgemeine Symptome der Grausamkeit, der Zerbrechlichkeit der Verhältnisse und selbst des gespannten Fadens; Symptome der Rasierklinge, die das Leben, das Reale und diese Ansammlung von so schwer identifizierbaren Dingen durchschneidet. Kurz gesagt: Ich weiss nicht, ob Jean-Xavier Renaud weiss, was er tut. Sicher ist, dass er uns verstehen lassen will, dass wir nicht wissen, was wir sehen. Diese Zeichnungen sind Meteoriten, die über unsere Köpfe hinweg fliegen, ohne dass wir einen Augenblick in der Lage wären zu verstehen, was sie beinhalten. Unser Leben? Das der Anderen? Welche Anderen? Man ist sich über nichts mehr sicher.


Fabrice Hergott


Directeur, Musée d'Art moderne de la Ville de Paris
in Katalog Dorothea von Stetten Kunstpreis 2008 | Kunstmuseum Bonn