Frankfurter Allgemeine Zeitung
vom 2. Oktober 1998


Martin Engler


Architekturdestillate
Was bleibt, ist Natur: Martin Kasper bei Guillaume Daeppen in Basel


Basel, Anfang Oktober


Das helle Haus sitzt wie ein Propfen in der Talsohle. Von links und rechts stürzen Berghänge ins Tal und rahmen das eigentümlich in die Höhe ragende Gebäude ein. Der Bogen einer Strasse schiebt sich von hinten in den Raum und vermittelt den Eindruck von Tiefe. Gelblicherdiges Ocker steht hier neben kräftigem Lila und straft den Naturalismus der imposanten Bergkulisse Lügen. Martin Kaspers Bild "Brenner" zeigt Landschaft und Natur als lautloses Aufeinandertreffen zweier konträrer Systeme, die sich einander in einem spannungsvollen Prozess annähern. Was der Maler an Architektur im Landschaftskontext vorfindet und in einem fotografischen Skizzenbuch in unzähligen Variationen notiert, wird im Atelier entleert und reduziert. Zuerst verschwinden die Menschen, denen nach und nach alle überflüssige Architektur nachfolgt. Zuletzt sitzt das Haus mittig in der Landschaft und schweigt.


Den Architekturdestillaten aus der Bergwelt des Brennerpasses, mit denen Kasper seine aktuelle Ausstellung in der Basler Galerie Guillaume Daeppen bestreitet, eignet in ihrer trockenen Temperamalerei die stumme Beredsamkeit eines Stillebens, die auch die Wasser- kraftwerke oder Staumauern vorangegangener Serien bestimmte. Während sich die Architektur mit ihrer tektonischen Strenge der Natur bemächtigt, findet sie sich im Gegenzug in die Logik der übermächtigen Landschaftsszenerie eingebaut. Ein neuer, zuweilen collageartig, bruchstückhafter Kontext entsteht, in dem die Malerei immer wieder von neuem ihre Autonomie zu verteidigen hat. Der Gegensatz zwischen Tektonik und Natur findet sich gespiegelt in der Standortbestimmung einer Malerei zwischen Gegenständlichkeit und Abstraktion.


Der interessanteste Moment der Ausstellung konfrontiert zwei Bilder derselben Kaserne, die sich zuerst nur in einer minimalen Verschiebung des Blickwinkels und der fast unmerklichen Vergrösserung des Ausschnittes unterscheiden. "Kaserne I und II" (jeweils 70 mal 85 Zentimeter) führen sodann vor Augen, wie sich der Künstler seiner Umwelt nähert: Wenige Veränderungen lassen aus der tiefenräumlichen Landschaft ein fast abstraktes, aus flächigen Farbwerten sich zusammensetzendes Tableau entstehen. Die zuvor noch leidlich erkennbare Strasse wird im zweiten Bild zu autonomen Bildstreifen, die den rückwärtige Berghang mutiert zur Theaterkulisse. So münden die Bilder einer wohlvertrauten Alpenidylle in befremdende malerische Formulierungen.


Martin Kaspers markante Gebäude treten dem Betrachter mit dem Selbstbewusstsein eines Porträtierten entgegen. Im Dialog, den sie trotz ihrer Zurückhaltung und Reduktion mit Maler und Betrachter entfalten, lassen sie den Gegenstand des Gesprächs, lassen sie Landschaft und Architektur weiter hinter sich, um mit jedem Bild von neuem die Frage nach der Realität unserer eigenen Bilder zu stellen.