SPIEGELFENSTER - UEBER SKATEMAN UND WONKAWEI


Die Bilder von Martin Wehmer lassen sich als hybride Wesen beschreiben, hierin durchaus Gerhard Richter nahe stehend. So verfolgt auch Martin Wehmer keine Absichten, kein System, keine Richtung; seine Arbeitsweise entzieht sich jedem Programm, jeder stilistischen Festlegung. Er experimentiert mit der wiederholten Befragung der unterschiedlichen künstlerischen Medien - Fotografie, Film und Comic - , die er verfremdend, zitierend, überblendend in malerische Strukturen überführt. Doch damit zielt er nicht darauf, den Realitätsgehalt seiner Bilder festzulegen, vielmehr auf die Vervielfältigung der ihnen gegebenen Unbestimmtheiten, um einen Bereich jenseits von oder zwischen Illusion und Wirklichkeit zu berühren.


Martin Wehmers panoramatisch gedehnte Leinwände zeichnet ein pastos aufgeworfener Farbauftrag aus, der die weit ausladenden Gesten des Künstlers spüren lässt. Der breite Strich des Spachtels veranschaulicht den künstlerischen Arbeitsprozess, in dem Farbflächen über der Oberfläche verteilt und anschliessend gezielt-spontan wieder ein- oder abgegrenzt werden. Indem der Betrachter die Bildentstehung nachvollzieht, wird ihm deutlich, dass die Kompositionen weniger gestisch impulsiv als vielmehr exakt reflektiert und konstruiert sind. Die in kreisenden Bewegungen geschaffenen Farbstrukturen überlagern und bedrängen sich wechselseitig als Flächenformen. Mehr oder weniger komplex verschachtelt und verschränkt, erschliessen sie einen energetisch aufgeladenen Tiefenraum. Hierbei bilden sich Farb-Form-Gefüge, die ding- oder körperhafte Vorstellungen berühren, ohne damit jedoch ein klar umgrenztes narratives Dispositiv zu benennen. Hier wird ein permanenter Transformationsprozess in Gang gesetzt. Farbsubstanz entstofflicht sich zu Energie, die sich in Kräftekonstellationen manifestiert, aus denen sich wiederum figurative oder gegenständliche Strukturen herauslösen. Eine Werkgruppe ist etwa bestimmt durch ein kosmisch anmutendes System, das von Sternen- und Satellitenbahnen sphärisch durchmessen wird. Das in Rot-Blau-Tönen nuancierte Schwarz des Bildgrundes lotet unterschiedliche Empfindungsweisen räumlicher Qualität bzw. völliger Negation von Weite aus. In Kettenreaktionen treten aus diesem Dunkel Kreis- und Ovaloidgebilde hervor, die sich in einem Wechselspiel polarer Kräfte pulsierend ausdehnen, bis an die Bildränder vordringen und dann wieder in sich zurückzuziehen.


Oftmals ist die Komposition in immer kleiner werdende Mikrostrukturen und -organismen so wiet aufgesplittert, dass Martin Wehmer dieser Zersetzung ordnend entgegenzuwirken sucht. Hierzu überblendet er das Geflecht kleinteiliger Strudelgebilde mit fenster- oder spiegelartigen Segmenten, die das dynamische Bildgeschehen in den darunter liegenden Schichten der Komposition als Ausblick zeigen oder auch zu weiten Teilen verstellen. In Grau-Weiss-Tönen subtil nuanciert, deuten sich auch in diesen klar abgegrenzten Bildzonen schattenhaft Gestalten und Räume an, doch bewegen sich diese in einem Bereich jenseits des begrifflich oder symbolisch Fassbaren. Wie aus einem Inkubationsraum treten dann aber auch Gegenstände und Figuren in Erscheinung, die - filmisch sequentiell - in das Kraftfeld des Bildes vorstossen, um für sich einen Aktionsradius zu definieren oder gar aus diesem System auszubrechen. So zeigt etwa 0figur eine Gestalt, die sich in einer Seitwärtsbewegung aus dem Rahmen stemmt. Dieses teigige Wesen stützt sich gegen das eigentümliche Spiegelfenster und strebt nunmehr danach, sich autonom, an der Schwelle zwischen Bild- und Betrachterebene, weiter zu entwickeln. Das weitgehend in Blau-Grau-Tönen gehaltene Farb-Flächen-Gefüge gewinnt hierbei die Bedeutung eines Szenenraums, der diese Figur womöglich antreiben und aus der Bildrealität heraus katapultieren wird. Dabei bleibt das vermutlich einem Comic oder Animationsfilm entsprungene Wesen in sich unbestimmt. Die Ueberformung des Gesichts mit dem einer Gasmaske ähnlichen Auswuchs vor Nase und Mund rückt sie in die Nähe eines Cyborgs, eines zwischen Mensch und Maschine angesiedelten Androiden, der an der Schnittstelle unterschiedlicher Realitätsebenen, zwischen abstrakter Bilderzählung und visionärer Comic-Phantasie eine labile, gleichsam schattenhafte Präsenz formuliert.


Im Bild skateman gefriert der energetisch aufgeladene Bildraum zur kühl anmutenden Grossstadtkulisse, die von einer abermals maskierten Gestalt auf einem Skateboard durchglitten wird. Der kristallin aufgesplitterte Hintergrund findet in einem bunt aufleuchtenden, sich von rechts oben in das Bildfeld schiebenden Räderwerk seiner Energiequelle. Die fensterartigen Rechteckformen, die den Protagonisten auch in diesem Fall umklammern, erfüllen hier allerdings weniger den Zweck eines szenischen Rahmens als vielmehr einer klaren Verortung der durch das Bildfeld schwebenden Figur. Den Eindruck einer fliessenden Rutschbewegung verstärkten indessen keilförmig ineinander verschränkte Strukturen, die den Skater von hinten anschieben und beschleunigt - wie auf einem Schlitten - durch das Bildfeld treiben. Der Betrachter sucht das sich ihm zuwendende Traumgesicht als filmische Momentaufnahme zu erfassen. Doch dessen schwarz akzentuierte Augenpartie und die Ueberwachungskamera neben ihm projizieren seinen Blick - vielleicht aggressiv, doch zumindest in einer Reflexbewegung - auf ihn selbst zurück. Die Figur scheint die dem Bild eingeschriebenen Energien in sich zu verkörpern, behauptet aber wiederum eine Eigenständigkeit als Reibungspol zwischen Bild- und Betrachterrealität.


Eine gegenläufige Austauschbeziehung von Energie und Materie deutet sich im Bild MythosFeldberg an. Als miniaturesker Schattenwurf verliert sich eine schwarze Silhouette im übermächtigen, kraftvoll aufgeworfenen Farb-Form-Gefüge, das wiederum durch zwei fensterartige Rechteckgebilde überlagert und in seiner warmen Buntfarbigkeit neutralisiert wird. Einander gegenüberstehend, deuten sie eine propellerähnliche Drehbewegung um die kleine Schattengestalt an. Indem die Spiegelfenster allen Schichten des Bildes vorgeordnet sind, artikuliert sich hier ein Tiefenraum, der sich in der Relation zu Wirklichkeit und Abbild kaum bestimmen lässt. Gleichsam dieser Ort- und Zeitlosigkeit entronnen, generiert sich im Zentrum des Bildes - wie schwebend, ort- und körperlos und doch selbst wieder einen Schatten werfend - die verschwindend kleine Chimäre, die als Fokus der Komposition deren Energien substantiell in sich aufnimmt. Eine weitere Betrachtungsebene eröffnet sich durch spitz zulaufende, pfeilartige Auswüchse, die den Fensterformen den Charakter von Sprechblasen verleihen und der skizzenhaft umrissenen Figur wie in einem Comic als Textbaustein zugeordnet sind. Doch die hierfür vorgesehenen Felder sind als Leerstellen belassen und allein durch Farb- und Helligkeitsmodulationen strukturiert. Wie ein leerer Bildschirm suggerieren sie eine nur intuitiv zu erschliessende Handlungs- und Deutungsoption.


Wonkawai vermittelt demgegenüber den Eindruck, das Fenster- oder Sprechblasenmotiv habe sich in einen bildfüllenden Flatscreen verwandelt. Aus diesem steigt in dreidimensionaler Wirkung ein eng umschlungenes Liebespaar empor, das sich als Torso aus dem Farbauftrag - und damit dem Screen - löst und in vollplastischer Wirkung einen irritierenden, gleichsam sphärischen Schwebe-Effekt erzielt. Typologisch erinnert das Figurenpaar an Filmportagonisten aus den 1960er Jahren und erweitert somit die Ebenen des Comics, abstrakter Form- und Farbkonstellationen und figurativer Bezüge um eine filmische Assoziation. Indem das Paar den Rahmen der Bildkomposition aufsprengt und damit in eine andere Wirklichkeitsebene vorstösst, berührt Martin Wehmer die Tradition der Trompe-l'oeil-Malerei, in der etwa Stillleben-Elemente durch Ueberschneidungen eines illusionistisch gemalten Rahmens die kategoriale Verschiedenheit von Bild- und Betrachterrealität in Zweifel ziehen. Doch während die Darstellung von bewegten Szenen und menschlichen Figuren weitgehend vermieden wurde, hebt er gerade darauf ab, der eigentlich innigen, intimen Kussszene des Paares einen dynamischen Bewegungsimpuls zu verleihen. Hierdurch entsteht der Eindruck einer nur peripher im Vorbeifahren erfassten, doch in besonderer Intensität aufgenommenen und erinnerten Momentaufnahme. An dieser Stelle wird ein Detail der kontinuierlich ineinander verlaufenden Farbformationen fokussiert, als sei es dem zeit-räumlichen Vergehen entrissen. Das Figurenpaar widersetzt sich der Tendenz zur Verflüssigung und Entstofflichung, indem es sich aus dem filmisch anmutenden Kontinuum des Bildes löst und in grösstmöglicher Nähe zum Betrachter eine körperhafte Präsenz in Anspruch nimmt.


Nicht in allen Fällen ist dieser Konzentrations- oder Klärungsprozess von gegenständlichen und abstrakten Bezügen so klar formuliert. Das Bild guitar lässt zwar das Instrument sowie zwei darauf spielende Hände erkennen. Dieses narrative Fragment ist jedoch unauflöslich in ein vielfältig zersprengtes Flächengefüge eingebettet, so dass das plastische Objekt vollständig in malerische Verläufe und Strukturen eingeschmolzen ist. Allein der Titel und die bei differenzierter Betrachtung auszumachenden Hände erlauben die Identifikation und neuerliche Differenzierung der Bildschichten. An der Verschmelzung von Objekt und Raum und der Facettierung des Bildgefüges im Sinne einer synästhetischen Klangerfahrung ist durchaus eine Auseinandersetzung mit dem Konzept des analytischen Kubismus abzuleiten. Doch während dieses darauf abhob, die perspektivische Raumdarstellung aufzubrechen und den Bildgegenstand aus wechselnden Perspektiven sukzessiv zu umschreiten, zielt Martin Wehmer auf eine Ebene jenseits dieser klaren Zuweisungen zeitlich-räumlicher Prägung. Mit rationalem Kalkül konstruiert er eine Bildrealität, die weder eindeutig als narratives noch als abstraktes Dispositiv zu erfassen ist. Die Komposition vermittelt dem Betrachter auf sinnlich-intuitive Weise Farb- und Klangempfindungen, die sich aus unterschiedlichen Wirklichkeitsschichten - aus Film, Comic, kunsthistorischen Motiven und Realitätserfahrungen - rekurrieren. Physisches und Psychisches, Energie und Materie sind in einer kontinuierlichen Austauschbeziehung verwoben. Die ästhetische Erfahrung ist durch diese komplexe Verschränkung von Realitäts- und Abstraktionsbezügen zwar einerseits kategorisch von der Kontingenz des Alltags abgehoben; doch gleichzeitig stellt Martin Wehmer - in einem bewusst formulierten Paradoxen - die Differenz von Logik und Intuition, von ästhetischen und zweckorientierten Betrachtungsweisen in Frage, indem er das Eine im Anderen begründet und schliesslich wieder ineinander aufhebt.


In jedem Fall sind die Bilder Martin Wehmers ganz wesentlich durch die Empfindung von Bewegung miteinander verbunden. Diese Dynamik artikuliert sich im künstlerischen Gestaltungsprozess und im Verknüpfen der verschiedenen Bildebenen zwischen Abstraktion und Gegenständlichkeit. In einer nahezu filmischen Analogie evozieren die Bilder den Blick aus dem Fenster eines fahrenden Zugs, der, die Landschaft, den Stadtraum oder einen Tunnel durchrasend, die jeweilige Umgebung in asbrakte Strukturen zersplittert und in Energieformationen zersetzt. Wie im Schnelldurchlauf eines Films verliert alles Ding- oder Körperhafte dabei seine Konsistenz, so dass es allein noch als Energieprozess in permanenter Flexibilität und Formbarkeit anschaulich wird. In einem Spannungsbogen zwischen filmischer und fotografischer Erzählung einerseits, malerisch gesetzter Autonomie andererseits manifestiert sich in den Bildern Martin Wehmers die Verkettung von Zeit und Raum im Modus der Auflösung und neuerlichen Verdichtung, ohne in dieser Wechselwirkung je einen Stillstand und damit eine Festlegung zu erzielen. Er greift nicht allein und primär die bereits von den italienischen Futuristen aufgeworfene Problemlösung auf, Dynamik in statischer Bildform mit malerischen Mitteln zum Ausdruck zu bringen; vielmehr geht es ihm darum, unterschiedliche Erscheinungsweisen von Wirklichkeit in Modellsituationen und Versatzstücken ineinander zu verschränken. Die Bilder lassen so weniger die Konformität von Wahrnehmung als vielmehr deren Disparität und die ihr gegebene Mehrdimensionalität bewusst werden. Das Motiv der Fenster-, Spiegel- oder Bildschirmfläche figuriert gewissermassen als Folie, auf der unterschiedliche Facetten der Realitätsanschauung sich brechen, um aus dieser Grauzone heraus in den Bildraum hinein oder umgekehrt aus diesem heraus imaginär dem Betrachter entgegen katapultiert zu werden. Die diffus gestaltete Spiegelebene bildet die weitgehend neutral belassene Leerformel, in der Figuratives, Gegenständliches und autonome Farb- und Formgebungen, Materie und Energie, Bewegungs- und Ruhemomente - wie in einem begrifflichen und symbolischen Niemandsland - eine Schnittstelle finden.


Gegenständliche und abstrakte Bezüge sind in den Bildern Martin Wehmers keine unversöhnlichen Antagonismen; sondern werden in Reflexen und Brüchen experimentell zusammengeführt, um in einer Situation des Uebergangs ein Spannungs- und Austauschverhältnis zu begründen. Damit ist der vermeintliche Gegensatz virtueller und faktischer Realitäten aufgehoben. Die Aufmerksamkeit von Martin Wehmer richtet sich nicht auf die Beschaffenheit und Sinnhaftigkeit von Wirklichkeitskonzepten, eher auf die verschiedenen Möglichkeiten, Lebenswelten aus dem subjektiven Erleben heraus zu formen, zu gestalten und auf unterschiedlichen Ebenen sinnlich erfahrbar zu machen. Hier artikuliert sich das positive Verhältnis eines Malers zu einer Gegenwart, die er zwar in ihren historischen Bezügen sowie raum-zeitlichen Dimensionen reflektiert, um sie dann jedoch aus der Farbe heraus, im Prozess der Bearbeitung von Farbsubstanz als eigenwertige Struktur neu zu arrangieren. Es ergibt sich dann aber keine autonome Wirklichkeit, sondern eine solche, in der sich die verschiedenen Aspkete von Realität, immanenter und tranzendenter, abstrakter und konkreter Natur komplex durchdringen. Je nach Haltung des Betrachters und Assoziationsrahmen kommen sie in wechselnden Facetten zur Erscheinung. Mehrschichtig und vieldimensional wahrgenommen, offenbart die Malerei von Martin Wehmer eine gleichsam filmische Erlebnisintensität, die durch zeitliche und räumliche Sprünge, Verlangsamungen und Beschleunigungen, Uebergänge von Traum und Wachzustand ihre eigene Wirklichkeitsdimension erschafft. Indem der Betrachter physisch-psychisch in dieses dynamische und wechselvolle Geschehen eingebunden wird, vergegenwärtigt er sich, wie in einem Loop gefangen, das sich hierin verdichtende Gestaltungs- und Veränderungspotential.


Christoph Kivelitz
im Katalog Martin Wehmer 0figur
Dortmunder Kunstverein, 2007