Unwucht. Zur Malerei von Martin Wehmer


Auch ich füge die Licht-Schattenpyramide in eins und verhefte ihre Ränder zu Farbhaftem und bunten Parketten der Netzhaut und schon sehe ich einen Kreis.
(Oswald Egger, Nichts, das ist. Gedichte, Frankfurt am Main 2001)


In Zeiten, in denen sich die Malerei oft in anderen Medien verbirgt (Fotografie, raumgreifenden Installationen, Video), erscheint Martin Wehmers Malweise hemmungslos anwesend, auftrumpfend gar, ein pointiertes Statement für das Material in der Malerei. Anders als die abstrakt konzeptionelle Malerei der Gegenwart gibt sich diese Malerei sinnlich und körperhaft. Starke Farben sind in ihrer materiellen Präsenz erwünscht und nicht nur zum Dasein im Ornament bestimmt. Ausgreifend ist die Geste, mit der die Position der Farbe behauptet wird. Die Bestimmtheit der Bilder wird meist über eine Leitfarbe erreicht, der sich alle anderen Töne, auch die Kontrast- und Komplementärfarben unterordnen. Dennoch ist die Malerei Martin Wehmers nicht allein durch die "symptomatische Visualität" der Farbe zu verstehen (1). Die formalen Gegebenheiten nehmen in kompositorischer Hinsicht einen Raum ein, der über das eigentliche Format hinausgreift. In der Tat ist das Bildformat keineswegs eine Grenze, die es zu respektieren gilt, denn die Geste der Farbe beginnt meist ausserhalb der Leinwand, an einem Punkt, der im Bildformat selber gar keinen Platz hat. Somit stösst diese Malerei über ihre reine Präsenz hinaus in einen imaginären Bildraum vor, der keine materiellen Grenzen kennt. Dieser imaginäre Raum, der sich über das Anwesende erhebt, birgt die Essenz und ebenso das Geheimnis von Martin Wehmers Malerei.


Natürlich ist es verlockend, sich dieser Essenz und dem Geheimnis über die Präsenz der Farbe in Martin Wehmers Arbeiten anzunähern. In erster Linie scheint sich alles um diese Präsenz zu drehen : die Strahlkraft der Pigmente der Oelfarbe, die dick mit Spachtel, Malmesser und Pinsel aufgetragen wird und durch den komplexen Prozess des Schichtens, Streichens und Modellierens ein eigenes Relief erhält. Der Farbauftrag verläuft meist in pinsel-breiten Bahnen, die mit dem Spachtel nachgezogen oder mit dem Pinsel gerillt werden. Das Relief ist Resultat eines tektonisch anmutenden Prozesses, der das Ablagern von Farbe ebenso beinhaltet wie das Anheben und Modellieren der Materie in den Farbbahnen. Die Farbigkeit selber unterstützt das Opulente : Martin Wehmers Vorliebe für starke Farbtöne - Gelb, Orange, Pink, Blau, Petrol - steht in engem Zusammenhang zur Grosszügigkeit, mit der er die Farbe in eine Form bringt. Die Absicht, der Farbe ein möglichst wirksames Reaktonsfeld zu bieten, erfordert eine plakative Grösse des Bildformats und macht die Signalwirkung der Farbe zum Programm. Doch der pastose Farbauftrag ist eine Behauptung, die mehr als nur auf das Material der Malerei - die Farbe - verweist.


Indem sich das Relief als ebenso starkes Element seiner Arbeiten imponiert wie die Farbe selbst, wird die Frage nach der Raumdimension intensiver gestellt. Sie reicht über das allein Formal-Kompositorische hinaus. Dies zeigt sich vor allem an den Rändern des Farbauftrags, die viel Aufmerksamkeit in dieser Malerei fordern. Hier zeigt sich, dass das Plakative der Farbe und das Pastose ihrer Materialität nur ein Vorwand ist : Es ergeben sich Verwerfungen, es wird Farbe gestaut und gestoppt, zum Fransen gebracht oder als verdickte Erhebung aufgeworfen. An diesen Stellen kann die Farbe mit dem Spachtel wieder angehoben oder in den Raum gezogen werden; die Messer greifen unter die Farbschicht und lösen sie von der Leinwand, um dein Eindruck von Kompaktheit aufzulöckern. Farbe zum Fliegen bringen, nennt das Martin Wehmer.


An den Rändern der Farbbahnen wird der Untergrund, die Leinwand sichtbar, und die Farbe verweist an diesen Stellen auf ihre Unsichtbarkeit. Die alte Frage nach dem Ort der Malerei klingt an, mit der das Medium seit der Moderne die Fiktion seines Unsprungs verknüpft: dass es einen essentiellen Grund der Malerei gebe und dass dieser Grund die Oberfläche sei. Eine Fläche, die auf das verweist, was man auf sie projizieren möchte. Ein schwarzes Quadrat auf weissem Grund beispielsweise. Die Intention, den Bildträger zu durchdringen, oder zumindest seine Rückseite zu sehen, existierte schon immer. Der Schriftsteller Balzac lässt im "Unbekannten Meisterwerk" den Maler Frenhofer die Gemälde Tizians Schicht für Schicht abheben, um die Maltechnik erkennen zu können. In Martin Wehmers Malerei ist es nicht das Anheben der Schichten, sondern das Auftreten von Störungen im Bildraum und an den Rändern der Farbe, welche den Schritt ins Geheimnis seiner Malerei vorzeichnen. Wenden wir uns somit der Anordnung von Formen im Bildraum zu, welche den Blick von Fläche zu Fläche ausrichten und auch auf jene Irritationen lenken, welche etwas von dem aufzeigen, das in Martin Wehmers Malerei nicht direkt sichtbar ist.


Weil es die Farbe ist, die die Ausdehnung im Bildraum vornimmt, herrschen in den meisten Bildern Martin Wehmers Streifen vor : Die Bildelemente sind auf den ersten Blick unprätentiös : horizontale und vertikale Streifen, Kreise in konzentrischer Parzellierung, Kreissegmente. In früheren Bildern war die vertikale Anordnung mehr oder weniger das dominierende kompositorische Prinzip. Die Bänder machten im Dreh der Malerei Kehrtwenden wie die Zeilen in Gedichten. Sie verjüngten sich oder liefen auseinander, um sich zu einer Art Vorhang zu verflechten, zu einem Stück schweren Stoffes, der steife Falten wirft. Die Bewegung des Hin und Her lief in zunehmend konischere Formen aus und erzeugte schliesslich das Interesse für die Diagonale. Die Diagonale trennt eine Form auf eine sehr eigenartige Weise. Sie zielt auf die Winkel des Bildformats, auf die Ecken, um dort aus dem Rechteck herauszutreten. Sie führt somit in den Raum ausserhalb des eigentlichen Bildes. Diese Dynamik der Diagonale hat in Martin Wehmers Malerei dazu geführt, dass geometrische Rapporte aufgebrochen und ausserhalb des eigentlichen Formats neu geordnet werden können.


Entlang dieser Linie, ausserhalb des Bildes, setzt Wehmer Punkte fest, die er jeweils als Zentrum für Kreise und Kreisbewegungen im Innern des Bildformates nutzt. Das Format des Kreises wird geometrisch über einen Punkt und die Länge des Radius konstruiert. Martin Wehmer nutzt für seine Bildkompositionen vorzugweise Kreise, deren Mittelpunkte ausserhalb des Bildformats liegen. So kann er von aussen Formen und Bewegungen ins Bild hineinschwingen lassen, die von der eigentlichen Schwere und Potenz der Materie ablenken. Der Kreis wird zum imaginären Konstruktionsprinzip, das die Bewegung der Kreisbahnen, somit die Komposition steuert.


Das Auffalende an Martin Wehmers neueren Bildern ist, dass der Kreis eigentlich nie in seiner ganzen Form zu sehen ist, sondern vielmehr nur als Anordnung von Kreisbahnen und in der Ueberlagerung von Kreissegmenten. Sie sind gemäss einer imaginären Ordnung auf der Bildfläche angeordnet, die von allen Rändern her ins Bildformat drängt.


Durch die radikale Segmentierung des bevorzugten formalen Elements - des Kreises - ist der Gestus des Farbauftrags und die materielle Expressivität der Malmittel begrenzt, kontrolliert, auch wenn zum Teil Spritzer und Flecken in benachbarte Felder übergreifen. Diese Gestik zielt zwar nach vie vor auf eine Expressivität in der Malerei, doch mündet sie paradoxerweise in eine Kalkulation des Gestus.


Eine solchermassen irritierte Gestik legt eine andere Methodik von expressiver Malerei offen. Es ist eine Expression, die ständig an ihre Grenzen verwiesen wird, an die Ränder des Farbauftrags. In Bildern aus den späten 1990er Jahren hängen die Streifen vertikal wie ein Vorhang von oben nach unten ins Bild hinein, um an ihrem Saum neue Formen anzustossen. In Martin Wehmers neuen Arbeiten wird der Anstoss formaler Elemente für die Komposition massgeblich dem Kreis zugeschrieben. Die Wirkung auf den Bildraum ist umso heftiger, weil sich die Ausläufer der ausserhalb des Formats liegenden Kreismittelpunkte ständig überkreuzen und gegenseitig stören. Gerade an den Enden der freilaufenden Malbewegungen ist der Zusammenprall im Kreis mit anderen Elementen der Komposition umso eindringlicher.


Nach einer Phase dichter Konfrontation innerhalb der Komposition erlauben die aktuellen extrem breiten Formate eine weniger gedrängte Bildorganisation. Folgerichtig tendiert nun auch der Kreis eher zur Ellipse, einer Form, die ihrerseits zwei Mittelpunkte suggeriert, von denen aus sie sich konstruieren lässt. Durch die Grösse der Ellipse nähern sich ihre Bogenformen wiederum einer Horizontalen an.


Die Bildebenen im kompositorischen Bildraum verlieren dadurch ihre Eindeutig- keit, auch in der Frage nach der möglichen Perspektive des Bildes. Es entstehen mehrere kompositorische Zentren im Bild, mehrere Richtungen auch, die den Bildraum in Unruhe versetzen. Gleichzeitig werden aber auch Zonen der Offenheit und des Uebergangs zugelassen, die monochrom besetzt sind und ihre eigene Energetik ins Bild bringen.


Daher sind die gebogenen Streifen und Bänder nicht allein als geometrisch-ornamentale Ordnung zu deuten, sondern als Pole auf einem - wenn auch geometrisch organisierten - Feld. Kräfteverhältnisse von Farbe und Form, von Materialität im durch die Malerei eröffneten Raum. Die Mehrpoligkeit erzeugt eine Mehrenergie, welche die Polarität von vertikal und horizontal in den früheren Bildern weit hinter sich lässt. Diese Malerei tendiert zur Polyvalenz, weil sich nichts mehr an einem eindeutig zentrierten Bildraum orientiert.


Die dadurch entstehende Unwucht wird durch die Farbgebung und die Farbkontraste pointiert, beispielsweise durch warme Farbtöne wie Gelb und Rot mit ihren Tendenzen ins Braun, Orange, Magenta und Grün. Blau tritt konzentriert auf, um die Bewegung im Bild zu bremsen oder wieder neu anzutreiben. In Martin Wehmers aktuellen queformatigen Arbeiten ist die Tendenz zur Unfarbe Schwarz auffallend, auch wenn er sich dem Schwarz nur annähert und über ein tiefdunkles Blau, Braun oder Grau die Radikalität der Farbe andeutet. Das Ziel ist die Metaphysik des Dunkeln, das von irrlichterndem Weiss gebannt wird.


Das Hinausgreifen in einen imaginären Bildraum, der keine materiellen Grenzen kennt, wird somit über verschiedene Wege vorangetrieben. Der Kreis als bestimmende Form und die dunklen, kalttonigen Farben bereiten dieses Terrain, das nach wie vor zum Gebiet der Abstraktion gehört. Die Abstraktion allein bereits als Imaginäres oder als Vision eines neuen Raumes zu bezeichnen, wie dies die Abstraktion zu Beginn des 20. Jahreshunderts konnte, greift zu kurz. Denn auch in diesen Bildern zählt neben dem gedanklichen Raum allein die Präsenz.


Es ist aber jener konzeptionelle Raum ausserhalb des eigentlichen Bildes, welcher die sinnliche Präsenz der Malerei von Martin Wehmer mit einer Intellektualität versieht und ihre Körperhaftigkeit zurückbindet an eine Reflexivität. Die Essenz dieser Bilder liegt in der Spaltung zwischen der realen, sichtbaren Oberfläche des Gemäldes und der pikturalen, die weit darüber hinausweist. Die Furchen entlang den Rändern der Farbe sind die Einschnitte ins Unsichtbare, ins Geheimnis.


Sibylle Omlin, 2002
in Katalog vom Kunstverein, Freiburg


(1) Den Begriff der "symptomatischen Visualitöt" entnehme ich dem Aufsatz "Ein entzückendes Weiss" von Georges Didi-Hubermann im Band "Phasmes" (DuMont Verlag, Köln 2001, S. 101)