ELASTISCHER BILDRAUM


Sie vibiert, rotiert und explodiert, sie strahlt ab und aus, sie zieht an - die farbbebende Malerei Martin Wehmers. Und das hat gute Gründe. Längst nicht so akut wäre die offensichtliche Zelebration von Spontaneität und Kalkül seines oft pastos gesetzten, vom Spachtel unterstützen Pinselduktus, wäre da nicht zugleich eine Leidenschaft für Kontrast- und Komplementärfarbige, fürs Stoffliche und Dynamische. Nicht zu vergessen das vehement Engagement für eine gebrochen konstruktive Bildtektonik jenseits von Zeichen und Figuren.


Pointiert inszeniert Martin Wehmer eine Welt, die ihr eigenes Dach baut: spacig, futurologisch, kosmisch und irgendwo zwischen Zirkel und Gestus gelegen. Die Koordinaten dieser fremden Region? Sie funkeln als experimentelle Kapriolen, die von und über Malerei erzählen, ja handeln. Klar ist: Da ist ein Autor am Werk, der sich des Ausdrucksspektrums von Malerei auf Intensivste versichert durchaus ornamental, nie dekorativ. Dabei mag einem der Tatort in Wehmer-Bildern verlassen vorkommen. Schliesslich ist hier weder Ding noch Alltagsbezug zu entdecken. Aber verlassen, trifft das zu? Tatsächlich ist nichts verwaist. Offenkundig aber ist: Wer Bilder malt, schliesst grundsätzlich Bestimmtes ein, anderes aus. "In Wirklichkeit (ist) das die Entsehung einer Kunst, die nichts mehr mit der Interpretation oder der Beschreibung von Naturformen zu tun hat ... eine Architektur aus Farben ...", skizzierte der Maler Robert Delaunay eine solche Hingabe ans malerische Medium.


Intensiv beschäftigt sich Martin Wehmer mit dem Ausloten dessen, was Malerei unter den Bedingungen indivdueller Sondierung bedeutet. In der Herstellung von Anwesenheit durch Abwesenheit verdichtet sich in seinen Bildern die Diagnose, dass es "die Farbe selbst (ist), die durch ihre Spiele, ihre Brüche und Kontraste, das Gerüst des Bildes formt". (Robert Delaunay) Dies bedeutet, dass die Farbe, was sie als Archäologie partiell übereinander liegender Farbschichtungen entwirft, buchstäblich nicht dingfest macht, es aber manifest gegenwärtig zur Wahrnehmung drängt: Was im und durchs Kolorit zu sehen ist, das ist. Es hat Präsenz und Dauer und behauptet in dieser radikalen Sichtbarkeit, ohne als Illustration einer Farbtheorie aufzutreten, Geschichtlichkeit und Sinn. "In welcher Zivilisation eine Malerei immer entsteht, von welchem Glauben, welchen Motiven, welchen Denkweisen und welchem Zeremonien sie auch immer umgeben ist, ... seit Lascaux bis zum heutigen Tage zelebriert sie kein anderes Rätsel als das der Sichbarkeit", hat der französische Phänomenologe Maurice Merleau-Ponty das verlockende Strahlen des Anschaulichen skizziert.


In der Malerei Martin Wehmers stehen mit dem Hier und Jetzt unvergleichbarer Farb-Form-Konstellationen zugleich etablierte Bedeutungszusammenhänge, Wiedererkennbarkeit und Alltagskenntnis zur Disposition - eine nicht unerhebliche Herausforderung für den Betrachter, ist doch dessen Auge als Nadelöhr zum Phänomen gefordert, zumal zu experimentellen Phänomenen. Als ein farbintensives Geschehen im Ping-Pong-Spiel von Harmonie und Chaos, von Verschiebung und Verwandlung, von Verlagerung und Verdopplung eigensinniger Binnenformen und ihrer zum Teil in Auflösung bzw. umgekehrt im Entstehen begriffenen Konsitenz arbeiten Martin Wehmers Bilder am genuin Imaginären. Hierdurch scheinen eindeutige Sinnzuschreibungen sogleich durch ihr Gegenteil aus den Angeln gehoben. Insbesondere dann, wenn man die Abstraktion anführt, wie sie in einigen Arbeiten in Form von elementarisierten Kreissegmenten oder stilisierten Rotorblättern auftaucht.


Vornehmlich aus der dynamischen Energie und intensiven Farbpräsenz des partiell gestisch-spontan wirkenden, überwiegend jedoch präzise, bisweilen reliefartig gesetzten Farbauftrags, zieht Martin Wehmers Abstraktion ihre Kraft - provoziert also die in Erinnerung gerufene Aehnlichkeit zum Vorbild rein malerisch. Die Abstraktion des Martin Wehmer? Sie ist eine sehr besondere, der Logik von peiture pure zwischen konstruktiver Kunst und expressiver Malerei verpflichtet. Auch dass seine bisweilen wie mit Lineal, Dreieck und Zirkel konzipiert anmutenden, andererseits jedoch ebenso dynamisch formulierten Setzungen eine poetische Interpretation kosmischer Ereignisse von der Umlaufbahn bis zum Energiefeld als Assoziation wachrufen, ist einer rein malerischen Erfindung zuzuschreiben - selbst wenn dem Anschein nach, anschaulich sichtbar, begrifflich vereindeutigt, tatsächlich jedoch offen, Super-Noven explodieren. Mitnichten kommt man dieser Malerei mit eindeutiger Sinnzuschreibung auf die Spur. Zu gross ist das Mass irritierender Interventionen sowohl auf der stofflichen als auch auf der geistigen Ebene. Mit dem Resultat, dass sich die multidimensionale Bildwelt des Martin Wehmer als eine elastische präsentiert.


Grenzüberschreitung und Offenheit lauten die Zauberworte zur Wunderkammer des eigentümlichen Bildraumes. Zwischen Fläche und Tiefendimension ist er verortet, treibt ein buntes Spiel mit Wirklichkeit und Illusion. Wer hier wen erzeugt, die Farbfläche den Raum oder umgekehrt der Raum die Farbfläche, ist untrennbar zu einem geschmeidigen Vorgang verwoben. Nichts in dieser brisanten Bildtextur scheint festzustehen, alles suggeriert Bewegung, Sprengung, Vibration, Facettierung. Hinzu kommen Unschärfe-Relationen. Mit dem begrenzenden Kontur, mit der definerenden Linie ist allenfalls ein experimentelles Rendezvous verabredet. Zwar scheint einiges in den Bildern von Martin Wehmer präzise umrissen, doch nur, um mit der wenig aufgeräumten Farbregion in nächster Nachbarschaft eine spannende Liaison einzugehen. Da ist es nahezu programmiert, dass die auf Entgrenzung drängende Malerei ins Schleudern gerät. Immens jedenfalls wirken die weit über Bildgeviert hinaus in den realen Raum ausstrahlenden Versprengungen und Rotationen - eine radikal imaginäre Inszenierung, die sich um Bildgrenze und Tradition nicht schert. Gut vorstellbar, dass diese Malerei das Fliegen meistert.


Ahnliches hatte auch der italienische Futurismus im Sinn, als man "Rots und Ultrarots (forderte), die schreien, die niemals genug grünen Grüns, die nie genug strahlenden Gelbs, Polenta-Orange, Safran-Gelb, Kupfer-Gelb, alle Farben der Schnelligkeit, der Freude, der Feuerwerke" (Carlo Carrà) und zugleich beabsichtigte, auf der Leinwand ein Geschehen wiederzugeben, das "nicht mehr ein fixierter Augenblick des allgemeinen Dynamismus sein (wird), es wird einfach die dynamische Empfindung selbst sein. - Gegenstände in Bewegung vervielfältigen sich unentwegt, deformieren sich, indem sie sich verfolgen wie vorwärts eilende Schwingungen im Raum." (Umberto Boccioni) Dass Bilder von Martin Wehmer mit einer solchen Sicht übereinstimmen, ohne sie zu zitieren, ist offensichtlich. Ihr augenscheinlicher Dynamismus spricht für sich.


Seine Malerei jedoch allein hier zu verorten, übersähe die Gegenstandlosigkeit seiner Bilder, die eben nicht mit einem Rennwagen "schöner als die Nike von Samothrake" argumentiert, hingegen das malerischen Medium in seiner Koexistenz von Farbe, Licht, Fläche, Form und Attraktion ernst nimmt. Jenseits einer klassischen, an der Horizontlinie orientierten Bildorganisation, die, einer Bühne ähnlich, alles der Regie einer tiefenperspektivisch gestaffelten Kulisse unterordnet, dehnt sich das turbulente Bildgeschehen auf der Fläche in die Breite aus. Den traditionellen Fluchtpunkt haben die bevorzugt im landschaftlichen Querformat auftretenden Bilder wenn nicht gar verbannt, so doch verschoben.


Andere Werke wiederum entwickeln eine unwiderstehliche Sogwirkung hinab zu den Tiefen des Bildgrundes. Wie sie dabei ein détail die ursächlich flächig organisierten Segmente, die pinselbreiten Bahnen, auch die schmaleren Streifen am Ende zu perspektivisch-dynamischen Eindrücken vorantreiben, das macht die Spannung der Sichtbarkeit versunkener Horizonte aus. Hierzu gehört auch, dass Bilder von Martin Wehmer gewissermassen Bilder ohne Punkt sind: Was sie erzählen im Spiel mit Tradition und Eigensinn, das geschieht simultan, Eine Entwicklung in der Zeit, ein sukzessives Vorgehen ist ausgeschlossen: "... die Eisenbahn ist ein Bild für das Sukzessive, eine Annährung an die Parallele: die Gleicheit der Schienen. Im Gegensatz dazu eine Kunst der Simultankontraste, der Farbformen." (Robert Delaunay) Und sind nicht auch Martin Wehmers Bilder anstelle von Linie und Perspektivität von funkelnder Malerei und komplexer Multidimensionalität bestimmt?


Wenn dies aber zutrifft, dann hat in der Simultan-Malerei des Martin Wehmer der Nu als dichtester, als gegenwärtigster Moment den Augenblick verdrängt - zur Feier einer Präsenz, die mit Metamorphose und Grenzüberschreitung einhergeht.


Claudia Posca
im Katalog Martin Wehmer 0figur
Dortmunder Kunstverein, 2007