Perpetuum mobile
oder das Bild as sein eigenes Paralleluniversum


Intensive Farbigkeit und bewegte Formen sind die augenfälligsten Merkmale der neuen Bilder von Martin Wehmer. Dabei wirkt seine Malerei zunächst ganz unmittelbar und direkt, scheinbar ganz aus der Geste entwickelt. Und doch spielt Wehmer mit Gegensätzen. Er bietet zunächst eine scheinbare Bestätigung konventioneller Wünsche und Anforderungen an Malerei - um sogleich mit mehrfachen Brechungen auf sie zu antworten. Einem Vexierbild gleich bieten die Bilder von Martin Wehmer Nähe und Ferne, Fläche und Raum, Ueberwältigung und wohlige Geste - stets bewegt sich seine Haltung zwischen Unmittelbarkeit und Künstlichkeit, zwischen Intuition und Inszenierung.


Wie aber kommt dieses Wechselspiel zustande ? Wie entsteht diese besondere Mehrdimensionlität, die seine Malerei auszeichnet ?


Exemplarisch lässt sich dies anhand einer Arbeit aus dem Jahr 2002 untersuchen.


Die erste Eindruck : Kräftige Farben, viel Gelb und Rot, deren vielfältige Nuancen, aufgepolstert mit verschiedenen Blautönen als ansgeschnittene Halbkreise durcheinanderwirbeln. Farbsicht an Farbschicht, die sich in immer grösser geschwungenen Farbbahnen ausbreiten, entwickelt sich vor unseren Augen eine Choreografie tanzender Kreisanschnitte. Dabei achten sie die Begrenzung des Bildgevierts nicht. Vom Bildrand angeschnitten, weisen die rotierenden Kreisfragmente über diesen hinaus und scheinen sich in endloser Vervielfältigung ins Unendliche fortzusetzen.


Direkt aus dem Material Farbe entwickelt, demonstrieren Martin Wehmers Bildformen Malerei pur : Eins Kreisfragment setzt sich jeweils aus verschiedenen pastos aufgetragenen Farbstreifen zusammen, die nicht mit Farbe ausgefüllt, sondern in Farbe ausgeführt sind. Der exakt ausgezirkelte Schwung des Pinsels bleibt unmittelbar nachvollziehbar. An manchen Stellen verdichtet sich am Ausgangspunkt einer Farbbahn die Oelfarbe, demonstriert geradezu den Ansatz des Pinsels, während unmittelbar daneben die darunter liegende Leinwand mit Spuren der Untermalung sichtbar wird.


Und doch nimmt Martin Wehmer diese Unmittelbarkeit der malerischen Geste innerhalb des Bildes wieder zurück. Das nächste Kreissegment ist deutlich stärker vermalt, hier scheinen die einzelnen Farbbahnen ineinander zu verschmelzen. Der so erzeugte Eindruck von Unschärfe vermittelt einen hohen Grad von Illusionismus. Damit vereint das Bild zwei Haltungen in sich : Hier die Demonstration einer reinen Malgeste, dort Malerei, die sich als ihre eigene Illusion erweist.


Dieses Spiel mit den Gegensätzen setzt sich auch bei der Frage nach dem angestrebten Raumeindruck fort. Zunächst bietet uns Wehmers Malerei ein Schauspiel, das sich ganz auf der Fläche abspielt. Sein pastoser Auftrag der Oelfarbe legt sich deutlich auf die Oberfläche der Leinwand. Auch die Kreis-fragmente bleiben als sorgfältig konstruierte geometrische Formen der Fläche verhaftet - ein Kreis und sein Radius kann nur auf einer zweidimensionalen Fläche konstruiert werden. Aber die Farbigkeit erzeugt eine eigene räumliche Dynamik. Leuchtendes Gelb scheint aus der Bildtiefe hervorzustrahlen, dunklere Farbtöne suggerieren ein Zurückweichen der Fläche. Im Wesentlichen sind es aber die Formen und ihre Anordnung, ihre Anschnitte, Ueber- und Untereinander-lagerungen, ihre Schichtung, die ein kulissenhaftes Raumgefüge mit grosser Tiefenwirkung erzeugen. Pikanterweise bleibt dabei jedoch offen, wie die Raum- verhältnisse eigentlich genau beschaffen sind, denn die angeschnittenen Farb- wirbel suggerieren zusätzlich eine ständige Bewegung. Das Form- und Farbgefüge schafft undefinierte Räume, deren endgültige Dimension im Bild selbst verschlossen bleibt.


Und wie verhält es sich mit dem Bild in seiner ganzen Erscheinung ?


In sich vollständig, klar definiert durch die vier Seiten der Leinwand, zeigt es sich durch die pure Grösse und farbige Intensität der vorgeführten Formen in einer Dimension, die mit dem menschlichen Mass konkurriert. Die gewaltigen, kreis- förmigen Farbbahnen sind raumfüllend und eindringlich - die Malerei überzeugt als in sich geschlossener Kosmos aus Bewegung und Farbe.


Doch auch hier gilt der Umkehrschluss, denn das Bild besitzt gleichzeitig auch einen fragmentarischen Charakter : Die angeschnittenen Kreissegmente sowie die Suggestion von Bewegung sprengen gleichsam den Rahmen des Bildes. Es wird nun zum Ausschnitt eines Kosmos, der sich ins Unendliche auszudehnen scheint. Das Bild führt vor, was auch jenseits des Bildrandes passieren könnte und erscheint als Bruchteil einer unendlichen Malschlaufe sich repetierender Formen. Der Bezugsrahmen verschiebt sich in diesem Fall in die andere Richtung : Als Teil eines überwältigenden Makrokosmos wird das Bild nun zu einem überschaubaren Ausschnitt, der uns - als "pars pro toto" - klein erscheint.


Dieses scheinbare Paradox erweist sich als Perpetuum mobile : Es erzeugt eine ständige Bewegung aus dem Bild heraus und zieht den Blick wieder in das angedeutete Innere des Bildes hinein, setzt Fixpunkte aus Kreis und Struktur, die es zugleich virtuos überwindet. Der Blick gleitet über die verführerische Ober- fläche, gerät in den Sog der Farb- und Raumdynamik, kann sich aber auch unvermittelt in der Betrachtung eines kleinen Details widerfinden.


Markantes Merkmal der aktuellen Arbeiten von Martin Wehmer ist demnach die Gleichzeitigkeit von Unmittelbarkeit und Konstruiertheit der Erscheinung. Der Farbauftrag jedes Pinselstrichs scheint als autonome Geste spontan und direkt auf die Leinwand gebracht zu sein. Doch bei der Grösse der weitgeschwungenen Kreisbahnen, bei der Masse des verwendeten Farbmaterials und der offensichtlichen Perfektion in ihrem Auftrag ist hier nichts dem Zufall überlassen. Die Geste entpuppt sich als sorgfältige Inszenierung des Bildgeschehens, als handwerklich perfekte Manipulation des Farbmaterials.


Dennoch verlängert sich diese Inszenierung nicht in eine blosse kalkulierte Ueberwältigungsstrategie hinein. Immer sind wir ins Bildgeschehen einbezogen und können die vorgeführte Malhandlung zurückverfolgen, können die Mehr- dimensionalität, die in den Bildern Martin Wehmers angeboten wird, nach eigenem Gusto erschliessen. Die Faszination dieser Arbeiten liegt darin, dass sie zwei eigentlich gegensätzliche Dimensionen aufweisen und uns die Freiheit lassen, uns zwischen den Extremen zu bewegen oder sie sogar als parallele Handlungs- und Darstellungsform zu erfahren.


Elke Keiper
im Katalog Kunstverein Freiburg, 2002